Donnerstag, 11. August 2016

Das Leben ohne Gott: Moral-los!

Der Narr spricht in seinem Herzen: »Es gibt keinen Gott!« Sie handeln verderblich, und abscheulich ist ihr Tun; da ist keiner, der Gutes tut. Der Herr schaut vom Himmel auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob es einen Verständigen gibt, einen, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen, allesamt verdorben; es gibt keinen, der Gutes tut, auch nicht einen einzigen! (Psalm 14, 1 – 3)

Es gibt zwei anti-theistische Schriftsteller, die mich seit vielen Jahren durch ihre Bücher begleiten. Einer lebt noch, der andere ist seit über 100 Jahren tot. Dieser zweite ist der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche. Seine Werke lese ich immer wieder und finde sie sehr anregend – wenngleich ich ihm natürlich in vielem widerspreche. Nietzsche war nicht nur Denker, er war auch (und vielleicht in erster Linie) Künstler. Als solcher hatte er reichen Einblick in die Seelenwelt seiner Zeit und war stets auf der Suche nach Worten, die diese möglichst gut wiedergeben.

Regelmäßig wird seine wunderschöne und fesselnde Beschreibung vom „Tod Gottes“ so gedeutet, dass Nietzsche deshalb glücklich gewesen sei, dass Gott endlich tot sei. Im ersten Moment könnte man es ja tatsächlich meinen; gerade wenn man bedenkt, dass Nietzsche sich in vielen Schriften scharf gegen das Christentum ausgesprochen hat. Doch diese Rede vom „Tod Gottes“ war kein Triumph Nietzsches, es war eine Feststellung von etwas, was er als bereits vollzogen betrachtete und nun versuchte, zu erkennen, welche Folgen sich daraus ergaben.

Die Zeit, in der Nietzsche lebte, war eine Zeit der hochfliegenden Gefühle technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Alles könnte möglich werden – die Wissenschaft wird es richten. Der Mensch war vom Rausche dieser Entdeckungen und Erfindungen wie benebelt. Immer mehr Menschen fragten sich, ob der christliche „Lückenbüßer-Gott“ (der zur damaligen Zeit von vielen Menschen nur noch gebraucht wurde, um das Unerklärliche zu erklären) noch nötig sei. Darwin hatte eine Behauptung aufgestellt, die womöglich zeigen könnte, dass das Leben aus unbelebter Materie entstanden und der Mensch lediglich ein Nachkomme der Affen sein könne.

So hat Nietzsche dieses Gefühl seiner Zeit aufgefangen und im Tode Gottes verarbeitet. Das war für ihn zunächst einfach eine Feststellung: Wir Menschen haben uns so weit in unserem Denken entwickelt, dass wir Gott hinter uns lassen können. Doch was folgt nun daraus? Dies war die eigentliche Frage, der Nietzsche sein Leben lang nachgegangen war. Mit bestechender Klarheit sah Nietzsche, dass die ganze humanistische Moral auf der Grundlage des christlichen Gottesglaubens aufgebaut war. Selbstbeherrschung, Mitleid, Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die ganzen Werte der französischen Revolution waren auf dem Boden des christlichen Glaubens entstanden; man hat lediglich versucht, diese Werte zu säkularisieren. So entstand in Nietzsche die Frage, wie man dieses Vakuum, das entstanden war, füllen könnte. G. K. Chesterton sagte, dass überall, wo man nicht mehr an Gott glauben würde, plötzlich alles geglaubt wird.

Für Nietzsche war klar: Etwas Neues musste her; oder besser gesagt etwas Altes in einem neuen Gewand. Das war die Geburtsstunde des Zarathustra. Um diese Figur Zarathustra herum soll ein neuer Glaube entstehen, welcher viele Elemente des alten Griechentums besitzt. Das war nämlich die größte Zeit für Nietzsche: Das klassische Altertum der Griechen vor Sokrates. Und welches sollten die neuen Werte sein? Nietzsche sprach gern von der „Umwerthung aller Werthe“, das bedeutete, dass alle Werte auf ihre Herkunft und ihren Nutzen untersucht werden sollten. Ins Zentrum stellt er das Dionysische, die Ekstase, das Außer-sich-Sein. Dionysos war bei den Griechen der Gott des Weines, der ekstatischen Freude und der Orgien. Alles, was dies Ekstatische hemmt, ist für Nietzsche etwas Schlechtes und deshalb ein Unwert.

Die Geschichte hat gezeigt, wohin eine gottlose Gesellschaft kommt. Sie wird keineswegs frei, sondern vielmehr wird dort immer der Schwache zum Sklaven des Stärkeren. Das hat übrigens schon Nietzsche vorausgesehen. Für ihn schien es das Normale zu sein. Ein Jahrhundert der Sozialismen brauner und roter Couleur hat die Folgen der Gottlosigkeit in aller Grausamkeit gezeigt. Der Mensch, der auf sich selbst geworfen ist, wird zum Knecht seiner Verderbtheit und ist so schnell zu allem Möglichen bereit, wozu er fähig ist.

Der „Neue Atheismus“ ist eigentlich ein alter Atheismus, der lediglich lange Zeit wusste, wie unglaubwürdig er ist. Das wurde nun vergessen oder besser gesagt verdrängt und kommt nun im Gewand eines neuen Atheismus zum Vorschein. Richard Dawkins etwa, ein wichtiger Protagonist dieses „Neuen Atheismus“, ist der zweite Anti-Theist, den ich sehr gerne lese. Es gibt kaum einen zweiten Wissenschaftler, der so anschaulich erklären kann wie er. Das bewundere ich sehr an ihm.

In einem war aber Nietzsche weiter als Dawkins: Nietzsche wusste, dass die Moral des Humanismus und der französischen Revolution genuin christlich sind. Dawkins hingegen hält diese Moral für etwas, was sich im Zuge der Evolution gebildet haben soll. In seinem ersten wichtigen Buch, dem „Egoistischen Gen“ versucht er die Evolution aus Sicht eines solchen Gens zu beschreiben: Die Gene sind in Konkurrenz miteinander in der Ursuppe, jedes versucht zu überleben, da die Nährstoffe nur für die besten Gene ausreichen. Irgendwann kommen Genreplikatoren (Kopiermaschinen) auf. Dann verbünden sich welche miteinander, um sich gegenseitig das Leben zu verbessern. Am Schluss entwickeln sie das menschliche Bewusstsein, das den Genen ein Schnippchen schlagen kann, weil im Bewusstsein auch so eine Art von Evolution stattfindet. Hier erfindet Dawkins den Begriff der Meme. Ein Mem ist ein bestimmter Gedankenbaustein, der über die Generationen vererbt wird, ein Stück Kultur, das mit der Natur der Gene durchaus im Gegensatz stehen kann. Dawkins hält nun diese Meme dafür verantwortlich, dass sich die Moral in unser Menschsein eingeschlichen hat. Er findet die Moral an sich etwas Gutes, solange sie mit der Vernunft und nicht nur mit der Tradition übereinstimmt.

Und hier fängt gerade das große Problem an: Wer bestimmt nun, was nur Traditionelles und was Vernünftiges ist? Da ist doch Nietzsche viel logischer, der auf den Überlebenskampf in der Tierwelt schaut und diesen als das Normale betrachtet. Ohne Gott gibt es keinen Maßstab, an dem die Vernünftigkeit einer Vernunft ablesbar ist. Keine Skala und keine Maßeinheit für Vernunft oder Unvernunft. Der Mensch auf sich selbst geworfen, ist dazu verdammt, immer nur sich selbst zu sehen, sich immer nur an sich selbst zu freuen wie Narziss im Spiegelbild seiner selbst. Er kann auch seine Mitmenschen immer nur im Bilde seiner selbst sehen, und das entfremdet ihn von jeder anderen Person.

Wie gut ist es doch, zu wissen: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und zuletzt wird er sich über den Staub erheben. (Hiob 19, 25)